Weitere Kolumnen von Dr. Dietrich Mack
Beethovens „Neunte“ am Karfreitag: Geht das?
Für viele Menschen bedeuten Weihnachten und Ostern vor allem Ferien, tolles Essen und Geschenke inklusive. Sie leben zwar nach einem christlichen Kalender (Wer will schon auf arbeitsfreie Sonntage und Feiertage verzichten?) und bestaunen oft die Kunstwerke und Bauten christlicher Kultur, aber die Kirche als Institution und der christliche Glaube sind vielen fremd. Sie halten Verbote für Tanzveranstaltungen, Rockkonzerte, große Sportveranstaltungen, wie sie der Artikel 3 des Feiertagsgesetzes (FTG) für die sogenannten stillen Tage vorschreibt, zu denen Karfreitag, Allerheiligen, Totensonntag gehören, für unzeitgemäß. Aber sogar der Ball der Fußballbundesliga und die Kugel am Roulettetisch im Casino ruhen an Karfreitag. Es ist der höchste, stillste dieser Feiertage für Christen, vor allem für evangelische. An diesem Tag wurde Christus gekreuzigt. Die brutale Hinrichtung eines Unschuldigen. Kein Tag also zum Jubel.
Die klassische Musik gilt vor allem in Deutschland als ernste Musik. Sie ist dem Karfreitag grundsätzlich angemessen. Das Nonplusultra an Karfreitag sind die Passionen von Johann Sebastian Bach. Sie werden in ihrer Dramatik, in ihrem Schmerz und ihrer musikalischen Schönheit dem Tag gerechter als viele Gottesdienste und Messen. Auch ungläubige Menschen sind tief beeindruckt. Ebenso sind die Messen und Requien von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Verdi, Brahms, Bruckner, Benjamin Britten oder die 5. Sinfonie von Bruckner, die 2. von Mahler und viele andere Werke der Klassik tiefberührende Glaubensbekenntnisse. Wagners „Parsifal“ gilt es Karfreitagsoper schlechthin.
Es fehlt also nicht an Werken für diesen Tag. Zählt zu ihnen auch die 9. Sinfonie von Beethoven? Sie wurde bei den Osterfestspielen in Baden-Baden am Karfreitag und Ostermontag aufgeführt. Beide Aufführungen waren ausverkauft. Die Abstimmung mit den Füßen war eindeutig. Die Berliner Philharmoniker haben, soweit ich weiß, die „Neunte“ bisher nie an Karfreitag aufgeführt. Warum jetzt? Hatte das ökonomisch-organisatorische Gründe? Ist das touristische Publikum in Baden-Baden toleranter als in Berlin oder selbst im katholischen Salzburg?
Die „Neunte“ ist ein (oft auch missbrauchtes) Monument der klassischen Musik, wird zu besonderen Anlässen aufgeführt. Fast immer sind es Freudenfeste, denn die Sinfonie jubelt in ihrem berühmten vierten Satz wie keine andere Musik. Für Schiller und Beethoven war die „Ode an die Freude“ ein politisch-humanistisches Ideal. Überm Sternenzelt mag zwar ein lieber Vater wohnen, aber die Ode singt von der Freude, von der Brüderlichkeit, vom Männerstolz vor Königsthronen. „Freude trinken die Wesen an den Brüsten der Natur“. Der Jubel ist grenzenlos. Ein harter Kontrast zu Karfreitag. Karfreitag steht für Leid, Tod und Stille, nicht für Jubel und Glück.
Pharisäer spielen gerade an Karfreitag eine üble Rolle. Man hüte sich also vor Rechthaberei, aber nicht vor einem Standpunkt. In meinem Umfeld gehen die Meinungen weit auseinander. Die einen meinen, stille Feiertage haben in unserem Leben keinerlei Bedeutung, man solle das FTG abschaffen und alles erlauben. Andere sagen, wenn der Ort würdig, aber nicht sakral ist, könne man auch Werke wie die „Neunte“ an Karfreitag aufführen. „Die Fledermaus“ allerdings ginge nicht. Für eine dritte Gruppe ist die Aufführung am Karfreitag befremdlich. „Seid umschlungen Millionen“ jubeln die Chöre, das passe nicht zu Karfreitag. Überraschenderweise sagen das nicht nur Christen, sondern auch Menschen, die, so betonen sie, mit Kirche und Religion „nichts am Hut“ haben. Ich habe auch ausführlich die KI befragt. Sie bot viele Pro- und Kontra-Argumente an, schließlich: „eher fehl am Platz“. Und was meinen Sie, liebe Leserinnen und Leser? Schreiben Sie uns.
Mit diesem Text begann alles im Jahr 2015...
Unausweichlich: der Jahreswechsel kommt
In vielen Familien haben Silvester und Neujahr feste Rituale. Diese Familien sind glücklich. Ich beneide sie. Bei uns beginnt die Diskussion jedes Jahr von neuem, wenn die Supermärkte die Osterhasen in Weihnachtsmänner umgeschmolzen haben, also im Spätsommer. Sie verschärft sich von Tag zu Tag. Meine Frau, ein Zwilling, ist mit Harmonie und Unentschlossenheit gesegnet. Um mich zu
besänftigen, sagte sie schließlich: „Wien, das wird dir gefallen.“ Viele Jahre habe ich dort studiert, gearbeitet und vor allem gelebt. Meine seligen Erinnerungen kennt sie auswendig, wie das in guten Ehen üblich ist. Wohnen, wo Pavarotti Pasta kochte, Tafelspitz bei Plachutta, Stöbern im Dorotheum, Häppchen mit Pfiff bei Trzesniewsky, Hawelka gegenüber, Stadtheuriger, Krönungsmesse in der Hofburg. Perfekt – dachte ich. Meine Frau nickte ergeben:„Aber nur, wenn wir ins Neujahrskonzert gehen.“ Ich hielt die Luft an. Sie wollte in den Musikvereinssaal, in diesen goldenen Tempel der klassischen Musik. Ein normales Abonnement für die Wiener Philharmoniker ist als Erbschaft begehrter als ein prall gefülltes Nummernkonto. Als Studenten mussten wir auf viele Heurige verzichten und viele Schillinge für Trinkgelder locker machen, um dort Konzerte mit neuer Musik zu hören, also alles nach Wagner, Strauss mal ausgenommen. Ins Neujahrskonzert kam ich nie. Die Eltern meines Freundes aus Texas hatten es ein Mal geschafft. Sie wohnten im Sacher, erwarben sich das Wohlwollen des Chefportiers, der ihnen mit seinen gekreuzten goldenen Schlüsseln das Neujahrskonzert aufschloss. Große Geldscheine umwölkten meine Stirn. Als ich zum Telefon griff, riet mir meine Frau zum Internet, das sei nicht so vornehm, aber sicher preiswerter. Ich fand ein Ticketcenter, das Karten in der besten Kategorie anbot. Meine Lesebrille beschlug sich. Meine Frau hörte mein Stöhnen: „Such bei ebay“. Neue Hoffnung, neue Eingabe. Viele Neujahrskonzerte auf CD, MP3, DVD, Bilder, Bücher und, irgendwo versteckt, 2 Karten gegen Höchstgebot, 5400 (in Worten fünftausendvierhundert) Euro, nicht Schilling. „Immerhin“, sagte meine Frau, „billiger als beim Ticketcenter“.
Dort sollten zwei Karten 7800 Euro kosten, beste Kategorie. Meine Frau gab nicht auf: „Stehplatz, das macht uns jünger.“ Ich schaute auf den Bildschirm: Ärmer! Zwei Karten 1500 Euro. Ein letztes Aufbäumen: „Erinnere dich an die geteilte Walküre? Jeder eine Halbzeit auf Stehplatz.“ Ich rechnete: das wären läppische 375 Euro für jeden, Stehplatz, eine Halbzeit. Wir schauten uns an,
lachten und beschlossen, Jahresabonnements für die Opern in Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe, Freiburg und viele schöne Konzertreihen zu kaufen. Auch das Festspielhaus in Baden-Baden werden wir uns leisten. Wir hatten ja viel gespart. Aber nach Wien reisen wir trotzdem. Ich will mich mit dem Mann mit den goldenen Schlüsseln unterhalten, vertraulich. Neujahr bleibt unausweichlich.