Weitere Kolumnen von Dr. Dietrich Mack
Schreib mal wieder
Ein jüngerer Freund schmeichelte mir kürzlich, ich sei der letzte Mensch, der noch Weihnachts- und Geburtstagsbriefe, Glückwunsch- und Urlaubskarten mit der Post verschicke. Das mache doch viel Arbeit: Briefpapier, Karten, Füller, Umschlag, Adresse, Briefmarke, Gang zum Briefkasten. Es gehe digital doch schneller und billiger. Er meinte es anerkennend, doch es klang nachsichtig, alte Schule, Schnee von gestern. Recht hat er.
Der letzte Mensch bin ich nicht. Immerhin wurden in Deutschland noch vor zwei Jahren 30 Millionen Weihnachtspostkarten verschickt und ebenso viele aus dem Urlaub, zu Geburtstagen und ähnlichen Anlässen. Vor siebzig Jahren waren es allerdings zehnmal und vor zehn Jahren doppelt so viele. Wie es mit den privaten Briefen steht, weiß man nicht so genau, da gibt es zumindest bei uns das Briefgeheimnis. Aber wie man die Zahlen auch dreht: Es geht abwärts mit dem Schreiben und Verschicken von privaten Briefen und Karten. Diese Post geht nicht ab, sondern runter; gleichzeitig werden wir durch Online-Handel, Werbung, Wurfsendungen usw. geflutet. „Bitte keine Werbung“ ziert jeden zweiten Briefkasten, an unserem steht: „Hund und Personal lieben Leckerlis, keine Werbung“.
Briefe schreiben und verschicken ist eine uralte Kulturtechnik. Schon im Persischen Reich (ca. 550 v.Chr.) gab es den ersten Botendienst für Briefe, den selbst der griechische Geschichtsschreiber Herodot bewunderte: „Nichts hält sie auf…weder Schnee, noch Regen, noch Hitze, noch Dunkelheit der Nacht.“ Die Römer waren ebenfalls schnell und zuverlässig, und tausend Jahre nach den Persern begann die ruhmreiche Geschichte der Thurn und Taxis-Post, die auch nichts aufhalten konnte. Mit der Postkarte fing die Schreibfaulheit an. Die erste zu Weihnachten kam 1843 aus England, die erste aus Deutschland mit einem Mann an einer Kanone 1870; kurz darauf schrieb man Feldpost.
Heute lockt niemand mehr eine Angebetete mit einer Briefmarkensammlung in seine Studentenbude, „Schönschreiben“ ist als Schulfach seit langem abgeschafft, der Chefarzt trägt als Statussymbol nicht mehr einen goldenen Montblanc im weißen Kittel, sondern das neueste iPhone und angehende Juristen müssen ihre langen Klausuren nur noch selten per Hand verfassen. Ich selbst schrieb meine Doktorarbeit noch auf einer mechanischen Olympia Schreibmaschine, liebevoll „Monika“ genannt, mit Schlitten und viel Tipp-Ex. Schwerstarbeit. Und die berüchtigten Weihnachtsrundbriefe mit ihren lawinenartigen weltanschaulichen, beruflichen und persönlichen Informationen sind im Email-Postfach gelandet und mit einem Klick entsorgt.
Alles am und ums Schreiben hat sich verändert. Schreiben, Mailen, Whatsapp, Sprachnachrichten, Chatten, Emoji – ist das eine Spirale nach unten? Ohne Zweifel erleichtert die digitale Kommunikation technisch vieles und eröffnet neue Freiheiten. Doch sie verführt auch zur Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit. Ein Klick löscht, ein Emoij ersetzt ganze Sätze. Für mich ist der schwerste Verlust die Götterdämmerung des Briefeschreibens. Ein Leben ohne Briefe ist möglich aber sinnlos, würde Loriot sagen.
Denkt man an die Briefberge, die Goethe, Wagner oder Thomas Mann mit unendlichem Fleiß geschrieben haben, die gedruckt unsere kleinen und großen Bibliotheken füllen, aus denen wir unendlich viel gelernt haben, kann man nur hoffen, dass die Großen unserer Zeit sich vom digitalen Rauschen nicht abschrecken lassen und ihre Briefe auf eine „Cloud“ schicken. Wolken haben mich immer fasziniert, die Cirren, Altocumuli, Cumulonimben und wie sie alle heißen. Nun trösten sie mich auch als möglicher Hort künftiger Briefliteratur. Gottvater Zeus wusste, warum er sich der „Wolkensammler“ nannte. Vielleicht liegen auch Ihre schönen Weihnachtsbriefe und –karten dort oben, liebe Leserinnen und Leser. Sie müssen sie nur schreiben und der „Cloud“ vertrauen.
Mit diesem Text begann alles im Jahr 2015
Unausweichlich: der Jahreswechsel kommt
In vielen Familien haben Silvester und Neujahr feste Rituale. Diese Familien sind glücklich. Ich beneide sie. Bei uns beginnt die Diskussion jedes Jahr von neuem, wenn die Supermärkte die Osterhasen in Weihnachtsmänner umgeschmolzen haben, also im Spätsommer. Sie verschärft sich von Tag zu Tag. Meine Frau, ein Zwilling, ist mit Harmonie und Unentschlossenheit gesegnet. Um mich zu
besänftigen, sagte sie schließlich: „Wien, das wird dir gefallen.“ Viele Jahre habe ich dort studiert, gearbeitet und vor allem gelebt. Meine seligen Erinnerungen kennt sie auswendig, wie das in guten Ehen üblich ist. Wohnen, wo Pavarotti Pasta kochte, Tafelspitz bei Plachutta, Stöbern im Dorotheum, Häppchen mit Pfiff bei Trzesniewsky, Hawelka gegenüber, Stadtheuriger, Krönungsmesse in der Hofburg. Perfekt – dachte ich. Meine Frau nickte ergeben:„Aber nur, wenn wir ins Neujahrskonzert gehen.“ Ich hielt die Luft an. Sie wollte in den Musikvereinssaal, in diesen goldenen Tempel der klassischen Musik. Ein normales Abonnement für die Wiener Philharmoniker ist als Erbschaft begehrter als ein prall gefülltes Nummernkonto. Als Studenten mussten wir auf viele Heurige verzichten und viele Schillinge für Trinkgelder locker machen, um dort Konzerte mit neuer Musik zu hören, also alles nach Wagner, Strauss mal ausgenommen. Ins Neujahrskonzert kam ich nie. Die Eltern meines Freundes aus Texas hatten es ein Mal geschafft. Sie wohnten im Sacher, erwarben sich das Wohlwollen des Chefportiers, der ihnen mit seinen gekreuzten goldenen Schlüsseln das Neujahrskonzert aufschloss. Große Geldscheine umwölkten meine Stirn. Als ich zum Telefon griff, riet mir meine Frau zum Internet, das sei nicht so vornehm, aber sicher preiswerter. Ich fand ein Ticketcenter, das Karten in der besten Kategorie anbot. Meine Lesebrille beschlug sich. Meine Frau hörte mein Stöhnen: „Such bei ebay“. Neue Hoffnung, neue Eingabe. Viele Neujahrskonzerte auf CD, MP3, DVD, Bilder, Bücher und, irgendwo versteckt, 2 Karten gegen Höchstgebot, 5400 (in Worten fünftausendvierhundert) Euro, nicht Schilling. „Immerhin“, sagte meine Frau, „billiger als beim Ticketcenter“.
Dort sollten zwei Karten 7800 Euro kosten, beste Kategorie. Meine Frau gab nicht auf: „Stehplatz, das macht uns jünger.“ Ich schaute auf den Bildschirm: Ärmer! Zwei Karten 1500 Euro. Ein letztes Aufbäumen: „Erinnere dich an die geteilte Walküre? Jeder eine Halbzeit auf Stehplatz.“ Ich rechnete: das wären läppische 375 Euro für jeden, Stehplatz, eine Halbzeit. Wir schauten uns an,
lachten und beschlossen, Jahresabonnements für die Opern in Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe, Freiburg und viele schöne Konzertreihen zu kaufen. Auch das Festspielhaus in Baden-Baden werden wir uns leisten. Wir hatten ja viel gespart. Aber nach Wien reisen wir trotzdem. Ich will mich mit dem Mann mit den goldenen Schlüsseln unterhalten, vertraulich. Neujahr bleibt unausweichlich.