Weitere Kolumnen von Dr. Dietrich Mack
Verdi und der 13. Oktober
Eigentlich sollte hier ein mit Bewunderung und leichter Ironie geschriebener Text über „St. John“ stehen, über den Choreographen John Neumeier, der zur Freude seiner vielen Fans angekündigt hat, dass sein Ballett „Epilog“, das gerade auch in Baden-Baden aufgeführt wurde, nur seinem Abschied vom Amt als Hamburger Ballettdirektor gelte, dort hatte er 51 Jahre geherrscht und Baden-Baden mit regelmäßigen Gastspielen im Herbst verwöhnt, nicht aber sein Ende als freier Choreograph bedeute. Er werde weiter arbeiten – forever. Das hätte auch der Schraubenkönig Reinhold Würth sagen können, der anlässlich seines 90. Geburtstags schrieb: „Um zu überleben, muss man arbeiten. Punkt.“ Dann aber fegten am 13. Oktober die Ereignisse in Israel und die Bilder, die man auf allen Kanälen sah, diese „Schicksalsfrage“ hinweg und man starrte gebannt auf den Fernseher.
Die Amerikaner berichteten ausführlich, lebendig und emotional. „Emotion“ beherrschen sie nicht nur in Hollywood, sondern auch bei CNN. Im deutschen Fernsehen gab es am Vormittag viele kluge Kommentare und wenige Emotionen. Man analysierte, orakelte, sprach von Problemen und Knackpunkten des Friedensplans von Donald Trump, alles korrekt, alles blutleer. Von der Freude des Tages über die Rettung der Geiseln, vom Zauber des Anfangs war nichts zu spüren. Fakten statt Emotionen. Vielleicht sollten deutsche Journalisten öfters in die Oper gehen, um auf solche Ereignisse vorbereitet zu sein.
Vor einigen Tagen stand ich in Verdis Geburtshaus in dem Dorf Le Roncole bei Busseto, südlich von Piacenza in der Emilia-Romagna. Flaches Land, breites, in die Erde geducktes, schmuckloses Bauernhaus. Der Vater war Gastwirt und Kleinbauer. Eine Holztreppe hoch das karge Zimmer, in dem Guiseppe Verdi am 10. Oktober 1813 geboren wurde. Die Stube wirkte auf mich wie der Stall zu Bethlehem. Es war ein magischer Augenblick. Nichts deutet auf sein Genie, seinen Ruhm hin, nichts auf die mächtigen Emotionen, die seine Opern entfachen können. Diese Erinnerung überfiel mich am Montag und ich dachte an den berühmten Chor der in Babylon gefangenen Israeliten aus „Nabucco“: „Va, pensiero, sull’ali dorate“, der so bewegend ist, dass er hier zumindest im Text zitiert sei:
„Zieh, Gedanke, auf goldenen Schwingen,/zieh und ruhe auf Fluren und Hügeln!/Lass die Sehnsucht den Lauf dir beflügeln/bis zu Zions Gebirge und Tal!/Grüß die Ufer des Jordans, die schönen!/Zu dem Tempel des Herrn mögst du dringen!/Ach, die Heimat, nach der wir uns sehnen,/grüß, Gedanke so süß und voll Qual!/Goldne Harfe der göttlichen Seher,/warum hängst du so stumm an der Weide?/Schenke Hoffnung und Trost uns im Leide/und erzähle von glorreicher Zeit./Auch vom Schicksal geschlagner Hebräer/singe, Harfe, in klagenden Tönen./Mit dem Willen des Herrn zu versöhnen,/schenk uns Hoffnung, zu tragen dies Leid.“
Dann folgt als Versprechen: „Saremo liberi“ – Wir werden frei sein. Dieser Schluss stammt zwar nicht von Verdi, aber er wird seit mehr als 150 Jahren als politisches Bekenntnis gesungen und so hörte ich ihn auch am 13. Oktober. Ich hätte auch an „Fidelio“ oder die „Ode an die Freude“ aus der Neunten von Beethoven denken können, die Leonard Bernstein 1989 in Berlin als „Ode an die Freiheit“ singen ließ. Große Gefühle triumphieren über den Verstand.
Das weiß auch Trump. „The sun rises on holy land that is finally at peace“ – das ist kein Operntext, das waren seine Worte in der Rede in der Knesset. Er ist ein Meister der Emotionen, Deals, Drohungen, starker Worte, nur ihm ist der Waffenstillstand, die Befreiung der Geiseln und die Hoffnung auf Frieden zu verdanken – ob einem das gefällt oder nicht. Die Sanftmütigen werden das Erdreich nicht besitzen, erfolgreich sind die Skrupellosen. Leider.
Mit diesem Text begann alles im Jahr 2015
Unausweichlich: der Jahreswechsel kommt
In vielen Familien haben Silvester und Neujahr feste Rituale. Diese Familien sind glücklich. Ich beneide sie. Bei uns beginnt die Diskussion jedes Jahr von neuem, wenn die Supermärkte die Osterhasen in Weihnachtsmänner umgeschmolzen haben, also im Spätsommer. Sie verschärft sich von Tag zu Tag. Meine Frau, ein Zwilling, ist mit Harmonie und Unentschlossenheit gesegnet. Um mich zu
besänftigen, sagte sie schließlich: „Wien, das wird dir gefallen.“ Viele Jahre habe ich dort studiert, gearbeitet und vor allem gelebt. Meine seligen Erinnerungen kennt sie auswendig, wie das in guten Ehen üblich ist. Wohnen, wo Pavarotti Pasta kochte, Tafelspitz bei Plachutta, Stöbern im Dorotheum, Häppchen mit Pfiff bei Trzesniewsky, Hawelka gegenüber, Stadtheuriger, Krönungsmesse in der Hofburg. Perfekt – dachte ich. Meine Frau nickte ergeben:„Aber nur, wenn wir ins Neujahrskonzert gehen.“ Ich hielt die Luft an. Sie wollte in den Musikvereinssaal, in diesen goldenen Tempel der klassischen Musik. Ein normales Abonnement für die Wiener Philharmoniker ist als Erbschaft begehrter als ein prall gefülltes Nummernkonto. Als Studenten mussten wir auf viele Heurige verzichten und viele Schillinge für Trinkgelder locker machen, um dort Konzerte mit neuer Musik zu hören, also alles nach Wagner, Strauss mal ausgenommen. Ins Neujahrskonzert kam ich nie. Die Eltern meines Freundes aus Texas hatten es ein Mal geschafft. Sie wohnten im Sacher, erwarben sich das Wohlwollen des Chefportiers, der ihnen mit seinen gekreuzten goldenen Schlüsseln das Neujahrskonzert aufschloss. Große Geldscheine umwölkten meine Stirn. Als ich zum Telefon griff, riet mir meine Frau zum Internet, das sei nicht so vornehm, aber sicher preiswerter. Ich fand ein Ticketcenter, das Karten in der besten Kategorie anbot. Meine Lesebrille beschlug sich. Meine Frau hörte mein Stöhnen: „Such bei ebay“. Neue Hoffnung, neue Eingabe. Viele Neujahrskonzerte auf CD, MP3, DVD, Bilder, Bücher und, irgendwo versteckt, 2 Karten gegen Höchstgebot, 5400 (in Worten fünftausendvierhundert) Euro, nicht Schilling. „Immerhin“, sagte meine Frau, „billiger als beim Ticketcenter“.
Dort sollten zwei Karten 7800 Euro kosten, beste Kategorie. Meine Frau gab nicht auf: „Stehplatz, das macht uns jünger.“ Ich schaute auf den Bildschirm: Ärmer! Zwei Karten 1500 Euro. Ein letztes Aufbäumen: „Erinnere dich an die geteilte Walküre? Jeder eine Halbzeit auf Stehplatz.“ Ich rechnete: das wären läppische 375 Euro für jeden, Stehplatz, eine Halbzeit. Wir schauten uns an,
lachten und beschlossen, Jahresabonnements für die Opern in Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe, Freiburg und viele schöne Konzertreihen zu kaufen. Auch das Festspielhaus in Baden-Baden werden wir uns leisten. Wir hatten ja viel gespart. Aber nach Wien reisen wir trotzdem. Ich will mich mit dem Mann mit den goldenen Schlüsseln unterhalten, vertraulich. Neujahr bleibt unausweichlich.