Weitere Kolumnen von Dr. Dietrich Mack
Einmal Immling, immer Immling
Alljährlich diskutieren im Frühsommer Musik- und Opernfreunde, ob man nach Glyndebourne, Salzburg, Bayreuth, Bregenz oder München zu den Festspielen fahren soll, welche Inszenierungen man unbedingt sehen müsse, welche Stars sensationell in Form seien, welche wahrscheinlich absagen werden; dazu heiße gastronomische Tipps. Ohne Klatsch und Tratsch wäre auch die Klassik nur ein vegetarisches Vergnügen. Ich habe in diesem Jahr alle verblüfft mit dem Hinweis: Ich fahre auf Immling. Ratlose Gesichter. Stille am Telefon. Große Fragezeichen. Zumindest im Badischen, aber nicht nur dort.
Immling ist wie Bayreuth die Idee eines Verrückten, liegt auch in Bayern, der Chiemsee ist nicht weit, Bad Endorf ist die „Talstation“, von dort geht es mit einem Shuttlebus auf enger Straße hinauf zum grünen Hügel. Vor vielen Jahren hat der Bauernsohn, der Pferde- und Opernnarr und sehr berühmte Bariton Ludwig Baumann Gut Immling entdeckt, die große Reithalle zu einem Festspielhaus für 700 Besucher, Gehöfte und Ställe nach und nach für Künstler, Gäste und Tiere herrichten, dazu ein riesiges Zirkuszelt aufstellen lassen, um 400 Gäste nach den Aufführungen an festlich geschmückten Tafeln zu bewirten. Man läuft nicht auseinander nach der Aufführung, man bleibt hocken, kulinarisch und musikalisch gut versorgt, die Künstler des Abends servieren lockere Tischmusik.
Man muss schon verrückt sein und zäh, um sowas auf die Beine zu stellen. Die öffentlichen Zuschüsse sind mickrig, Baumann musste viel betteln, Sponsoren von seiner Idee überzeugen. Aber er ist kein abgehobener Intendant, er legt selbst Hand an, mischt sich unter die Leute, jeder kennt ihn und er kennt (fast) jeden. Dieser familiäre, herzliche Umgang gilt für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, viele davon ehrenamtlich, alle mit ansteckender Begeisterung in den Augen. In diesem Jahr waren vierzig Nationen vertreten. Baumanns Ehefrau Cornelia von Kerssenbrock ist seit 2002 die musikalische Leiterin und dirigiert alle Opern. Musikalisch ausgebildet am Mozarteum in Salzburg, bei Peter Gülke in Freiburg und in vielen Meisterkursen hat sie die neue Dirigentinnen-Generation mit geprägt, ist international mehr gefragt als in Deutschland. Das kennt man auch von anderen erstklassigen Musikern. Im nächsten Jahr werden diese verrückten Leute das 30. Festspieljubiläum feiern.
Die Atmosphäre ist einzigartig. Alphörner blasen zur Premiere, Kuhglockengebimmel beendet die Pausen, viele elegante junge Frauen stapfen über die Wiese, der Blick geht weit über den Chiemgau bis zu den Alpen, der Sonnenuntergang ist spektakulär. Nur die Hütehunde mischen sich leider nicht unter die Gäste. Wer Staatsempfänge liebt, Auffahrt im Bentley, rote Teppiche für Politiker, Selfies mit B-Promis, ist hier falsch am Platz. Der Exminister nimmt den Shuttlebus, der Landrat begrüßt die Gäste mit einer Kurzanalyse der Oper „Die Macht des Schicksals“, der Inspizient kommt an den Frühstückstisch und gibt ein Opernseminar. Immling ist eine schöne, bezahlbare Mischung aus Glyndebourne, Salzburg und Bayreuth ohne elitären, glamourösen Anstrich.
Im Mittelpunkt stehen in diesem Jahr „Die Macht des Schicksals“ von Verdi, „Manon Lescaut“ von Puccini, „Carmen“ von Bizet und „Die Zauberflöte“ von Mozart für Kinder. Bühnenspektakel darf man nicht erwarten, die technischen Möglichkeiten sind begrenzt. So arbeitet man klug mit Licht und Podesten für eine dramatische Chorregie. Das musikalische Niveau ist hoch. Viele Orchestermusiker und Choristen kommen aus Georgien, die jungen Solisten aus aller Welt. Manche haben das Potential für eine internationale Karriere, alle hat Cornelia von Kerssenbrock fest im Griff. Sie dirigiert, gut sichtbar für alle, präzise und ausdrucksstark, hat ein sicheres Gespür für Struktur, Klangbalance und Dynamik. Die riesigen Chöre hat sie nicht einem Chorleiter überlassen, sondern selbst einstudiert; das sieht und hört man. Die Chöre sind die musikalische Sensation.
Wer den Erfolg eines Verrückten, eine einzigartige Atmosphäre und Opern auf hohem musikalischem Niveau erleben will, reise nach Immling! Für viele ist es eine Sucht geworden.
Mit diesem Text begann alles im Jahr 2015...
Unausweichlich: der Jahreswechsel kommt
In vielen Familien haben Silvester und Neujahr feste Rituale. Diese Familien sind glücklich. Ich beneide sie. Bei uns beginnt die Diskussion jedes Jahr von neuem, wenn die Supermärkte die Osterhasen in Weihnachtsmänner umgeschmolzen haben, also im Spätsommer. Sie verschärft sich von Tag zu Tag. Meine Frau, ein Zwilling, ist mit Harmonie und Unentschlossenheit gesegnet. Um mich zu
besänftigen, sagte sie schließlich: „Wien, das wird dir gefallen.“ Viele Jahre habe ich dort studiert, gearbeitet und vor allem gelebt. Meine seligen Erinnerungen kennt sie auswendig, wie das in guten Ehen üblich ist. Wohnen, wo Pavarotti Pasta kochte, Tafelspitz bei Plachutta, Stöbern im Dorotheum, Häppchen mit Pfiff bei Trzesniewsky, Hawelka gegenüber, Stadtheuriger, Krönungsmesse in der Hofburg. Perfekt – dachte ich. Meine Frau nickte ergeben:„Aber nur, wenn wir ins Neujahrskonzert gehen.“ Ich hielt die Luft an. Sie wollte in den Musikvereinssaal, in diesen goldenen Tempel der klassischen Musik. Ein normales Abonnement für die Wiener Philharmoniker ist als Erbschaft begehrter als ein prall gefülltes Nummernkonto. Als Studenten mussten wir auf viele Heurige verzichten und viele Schillinge für Trinkgelder locker machen, um dort Konzerte mit neuer Musik zu hören, also alles nach Wagner, Strauss mal ausgenommen. Ins Neujahrskonzert kam ich nie. Die Eltern meines Freundes aus Texas hatten es ein Mal geschafft. Sie wohnten im Sacher, erwarben sich das Wohlwollen des Chefportiers, der ihnen mit seinen gekreuzten goldenen Schlüsseln das Neujahrskonzert aufschloss. Große Geldscheine umwölkten meine Stirn. Als ich zum Telefon griff, riet mir meine Frau zum Internet, das sei nicht so vornehm, aber sicher preiswerter. Ich fand ein Ticketcenter, das Karten in der besten Kategorie anbot. Meine Lesebrille beschlug sich. Meine Frau hörte mein Stöhnen: „Such bei ebay“. Neue Hoffnung, neue Eingabe. Viele Neujahrskonzerte auf CD, MP3, DVD, Bilder, Bücher und, irgendwo versteckt, 2 Karten gegen Höchstgebot, 5400 (in Worten fünftausendvierhundert) Euro, nicht Schilling. „Immerhin“, sagte meine Frau, „billiger als beim Ticketcenter“.
Dort sollten zwei Karten 7800 Euro kosten, beste Kategorie. Meine Frau gab nicht auf: „Stehplatz, das macht uns jünger.“ Ich schaute auf den Bildschirm: Ärmer! Zwei Karten 1500 Euro. Ein letztes Aufbäumen: „Erinnere dich an die geteilte Walküre? Jeder eine Halbzeit auf Stehplatz.“ Ich rechnete: das wären läppische 375 Euro für jeden, Stehplatz, eine Halbzeit. Wir schauten uns an,
lachten und beschlossen, Jahresabonnements für die Opern in Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe, Freiburg und viele schöne Konzertreihen zu kaufen. Auch das Festspielhaus in Baden-Baden werden wir uns leisten. Wir hatten ja viel gespart. Aber nach Wien reisen wir trotzdem. Ich will mich mit dem Mann mit den goldenen Schlüsseln unterhalten, vertraulich. Neujahr bleibt unausweichlich.