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Kolumne von Dr. Dietrich Mack


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Elektra und der Laubbläser
Musik ist nicht nur eine Himmelsmacht, sondern auch eine Macht auf Erden, die vielen Menschen hilft und einigen schadet. Mit Militärmusik gewinnt man keinen Krieg mehr, füllt aber Bierzelte, mit Wellnessmusik beruhigt man Millionen, mit Rockmusik im Stil von „AC/DC“ oder „Metallica“ raubt man ihnen jeden Erholungsschlaf. Klassische Musik, Volksmusik, Pop und Lieder aller Art gehören für viele Menschen zum Glücklichsein, zu den  Grundnahrungsmitteln von der Wiege bis zur Bahre. Sie sind hilfreich für Schwangere, psychisch gestörte Menschen, Stress- und Schmerzpatienten, Demenzkranke. Musiktherapie ist eine angesehene Disziplin. Chorgesang fördert soziale Kontakte und trainiert das Gedächtnis. Wenn es später einsamer wird, singen, summen, flüstern Großmütter immer noch den zwölften Vers des Kirchenliedes „Befiehl du deine Wege“ oder den siebzehnten Vers des Volksliedes „Es waren zwei Königskinder“.
Aber Musik verspricht nicht nur viel Glück und viel Segen auf all unseren Wegen, sie kann auch krankmachen, vor allem die Musikerinnen und Musiker selbst. Die leiden an kaputten Stimmbändern, Sehnen, Muskeln, Nerven, Hörverlust und Bandscheibenvorfällen. Solisten überlasten sich selbst, Orchestermusiker werden überlastet. Viel zu tun für die Musikermedizin.
Wenn viele Menschen auf engem Raum laut werden, ist die Hölle nicht weit. In Bayreuth gibt es keinen Orchestergraben, sondern einen Abgrund mit einem Deckel oben drauf, in dem stundenlang ein Höllenlärm tobt. Nur die Holzbläser haben Luft nach oben; die anderen mischen sich in Schweiß, Leid und Taubheit. Am schlimmsten geht es denen, die ganz unten sitzen, die den Dirigenten nur erahnen und das Oberlicht der Welt vergessen haben. Zwischen Pauken, Wagner-Tuben und Rührtrommeln überlebt man kaum. Für Zuhörer ist dieser mystische Abgrund ein Segen, für Musiker ein Ort des Leidens.
Richard Strauss nahm in vielen Werken weder auf Musiker noch Zuhörer Rücksicht. Seine Oper „Elektra“, die man jüngst bei den Osterfestspielen in Baden-Baden hören konnte, ist eigentlich unaufführbar, zumindest in der Originalfassung. 62 Streicher, 20 Holzbläser, 20 Blechbläser, 6 Schlagzeuger, viele Harfen und Celesta führen im Orchestergraben einen Überlebenskampf, zum Glück nur 105 Minuten lang. So gewaltig, kompromisslos trumpften nur noch Arnold Schönberg („Gurre-Lieder“) und später Bernd Alois Zimmermann („Soldaten“) auf.
Feinhörigen Menschen geht es nicht anders. Giacomo Puccini schrie auf: „Elektra! Entsetzlich! Salome geht noch – aber Elektra ist zu viel.“ Es ging ihm wie Tannhäuser im Venusberg, und so geht es vielen Menschen noch heute: Sie fliehen vor dem Lärm oder sie erliegen dieser Musik wie der Schwyzer, von dem Strauss in seinen Erinnerungen berichtet: Mit Vergnügen habe er gehört, dass in Basel ein Schwyzer gefragt wurde, wie ihm „Elektra“ gefallen habe: „Ganz großartig“ war die Antwort.  „Und die Musik?“ - „Musik hab ich gar keine gehört.“ Dem Mann hatte es die Sprache verschlagen. Er war überwältigt von diesem Werk. Strauss wollte überwältigen. Das war ihm wichtiger als gescheite Reden. „Viel Lärm um nichts“ kann man bei Shakespeare sagen, nicht bei „Elektra“. Da geht es um alles. Verdichtet bis zum Wahnsinn. So hören die einen, die Nervenstarken, den Reichtum und die Pracht dieser Musik, die anderen nur Lärm und Krach. Dazwischen gibt es nichts.
Wahrscheinlich hätte Puccini freundlicher über „Elektra“ geurteilt, wenn ihm Laubbläser mit 120 Dezibel in Torre di Lago (dort gibt es viele Laubbäume) jede Ruhe geraubt hätten. Dieses Monstergerät, fünfzig Jahre später von einer japanisch-schwäbischen Firma erfunden, soll das Leben erleichtern, zerstört aber Böden, Kleinlebewesen und unsere Nerven. Wer Laubbläser kennt, wird „Elektra“ als Kammermusik genießen.

Mit diesem Text begann alles im Jahr 2015...

Unausweichlich: der Jahreswechsel kommt

In vielen Familien haben Silvester und Neujahr feste Rituale. Diese Familien sind glücklich. Ich beneide sie. Bei uns beginnt die Diskussion jedes Jahr von neuem, wenn die Supermärkte die Osterhasen in Weihnachtsmänner umgeschmolzen haben, also im Spätsommer. Sie verschärft sich von Tag zu Tag. Meine Frau, ein Zwilling, ist mit Harmonie und Unentschlossenheit gesegnet. Um mich zu
besänftigen, sagte sie schließlich: „Wien, das wird dir gefallen.“ Viele Jahre habe ich dort studiert, gearbeitet und vor allem gelebt. Meine seligen Erinnerungen kennt sie auswendig, wie das in guten Ehen üblich ist. Wohnen, wo Pavarotti Pasta kochte, Tafelspitz bei Plachutta, Stöbern im Dorotheum, Häppchen mit Pfiff bei Trzesniewsky, Hawelka gegenüber, Stadtheuriger, Krönungsmesse in der Hofburg. Perfekt – dachte ich. Meine Frau nickte ergeben:„Aber nur, wenn wir ins Neujahrskonzert gehen.“ Ich hielt die Luft an. Sie wollte in den Musikvereinssaal, in diesen goldenen Tempel der klassischen Musik. Ein normales Abonnement für die Wiener Philharmoniker ist als Erbschaft begehrter als ein prall gefülltes Nummernkonto. Als Studenten mussten wir auf viele Heurige verzichten und viele Schillinge für Trinkgelder locker machen, um dort Konzerte mit neuer Musik zu hören, also alles nach Wagner, Strauss mal ausgenommen. Ins Neujahrskonzert kam ich nie. Die Eltern meines Freundes aus Texas hatten es ein Mal geschafft. Sie wohnten im Sacher, erwarben sich das Wohlwollen des Chefportiers, der ihnen mit seinen gekreuzten goldenen Schlüsseln das Neujahrskonzert aufschloss. Große Geldscheine umwölkten meine Stirn. Als ich zum Telefon griff, riet mir meine Frau zum Internet, das sei nicht so vornehm, aber sicher preiswerter. Ich fand ein Ticketcenter, das Karten in der besten Kategorie anbot. Meine Lesebrille beschlug sich. Meine Frau hörte mein Stöhnen: „Such bei ebay“. Neue Hoffnung, neue Eingabe. Viele Neujahrskonzerte auf CD, MP3, DVD, Bilder, Bücher und, irgendwo versteckt, 2 Karten gegen Höchstgebot, 5400 (in Worten fünftausendvierhundert) Euro, nicht Schilling. „Immerhin“, sagte meine Frau, „billiger als beim Ticketcenter“.
Dort sollten zwei Karten 7800 Euro kosten, beste Kategorie. Meine Frau gab nicht auf: „Stehplatz, das macht uns jünger.“ Ich schaute auf den Bildschirm: Ärmer! Zwei Karten 1500 Euro. Ein letztes Aufbäumen: „Erinnere dich an die geteilte Walküre? Jeder eine Halbzeit auf Stehplatz.“ Ich rechnete: das wären läppische 375 Euro für jeden, Stehplatz, eine Halbzeit. Wir schauten uns an,
lachten und beschlossen, Jahresabonnements für die Opern in Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe, Freiburg und viele schöne Konzertreihen zu kaufen. Auch das Festspielhaus in Baden-Baden werden wir uns leisten. Wir hatten ja viel gespart. Aber nach Wien reisen wir trotzdem. Ich will mich mit dem Mann mit den goldenen Schlüsseln unterhalten, vertraulich. Neujahr bleibt unausweichlich.